Offener Brief an die Senatorin für Soziales, Jugend und Integration (Dokumentation)

Guten Tag Frau Dr. Claudia Schilling,


als neue Senatorin für Arbeit, Soziales, Jugend und Integration stehen Sie ab sofort in der Verantwortung, die Versorgung, die pädagogische Begleitung und die Unterbringung von unbegleiteten minderjährigen Schutzsuchenden zu gewährleisten.
Wir schreiben Ihnen als ein Zusammenschluss verschiedener politischer Akteur*innen in Bremen, die sich als Bündnis unter dem Namen #ShutDownTurnhalle zusammengefunden haben. Wir möchten Sie auf die verheerenden Zustände in der Unterbringung für minderjährige Geflüchtete hinter dem Flughafen hinweisen. Dieser Brief ist eine Aufforderung,Ihrer Verantwortung nachzugehen, die Einrichtung umgehend zu schließen und einen sicheren Ort für die dort untergebrachten Jugendlichen zu schaffen.

Wie wir erfahren haben, werden aktuell ca. 35 schutzsuchende Jugendliche in einer Turnhalle hinter dem Bremer Flughafen am Airport Lab untergebracht. Dabei besteht kein Grund die Turnhalle als Notunterkunft zu nutzen, denn in der regulären Erstaufnahmeeinrichtung für Minderjährige in der Steinsetzerstraße stehen ausreichend Plätze zur Verfügung. Stattdessen müssen die Kinder und Jugendlichen zu mehreren in ca 4m² großen Verschlägen leben,die nur durch Aufstellwände voneinander getrennt sind. Den Bewohner*innen des Lagers wird so nicht einmal ein Minimum an Ruhe und Privatsphäre gewährt. Sie sind in der Unterbringung der permanenten Überwachung und Kontrolle durch die Securities und die Mitarbeiter*innen der Johanniter ausgesetzt. Uns ist zudem bekannt, dass es in den Duschräumen schimmelt und die Matratzen von Insekten befallen sind, die bei den Bewohner*innen schmerzende und juckende Stiche hinterlassen. Die Bewohner*innen berichten uns darüber hinaus von einer miserablen Lebensmittelversorgung. (siehe  Filmaufnahmen:https://togetherwearebremen.org/first-video-from-inside-the-turnhalle/)In der Turnhalle hinter dem Flughafen leben die schutzsuchenden Jugendlichen abgeschnitten von jeglichem sozialen und kulturellen Leben. Sie werden dort isoliert und systematisch von der Bremer Öffentlichkeit abgeschottet. 

Dieser kurze Einblick in die Unterbringungssituation macht deutlich, dass diese ein massives Gesundheitsrisiko für die Bewohner*innen darstellt. Die Gefährdung der psychischen und physischen Gesundheit der minderjährigen Schutzsuchenden wird mit dieser Praxis bewusst geduldet. Die Lebensbedingungen in der Turnhalle sind offensichtlich menschenunwürdig und widersprechen den Bestimmungen zum Jugendschutz und Kindeswohl. Schutzsuchende Jugendliche zu isolieren, sie zu einem Leben zwischen Trennwänden und Stockbetten zu zwingen und sie der ständigen Bedrohung einer bevorstehenden Zwangsumverteilung auszusetzen, ist gewaltvoll und hat massive psychische Auswirkungen für die Betroffenen! Wir sehen darin Institutionellen Rassismus, der durch Ihre Behörde angeordnet und legitimiert und durch die Polizei und die Träger der Lager durchgesetzt wird.

Diese Gewalt gegen minderjährige Geflüchtete ist nichts Neues. Bremen ist das einzige Bundesland, in dem Jugendlichen Gewalt angedroht wird, wenn sie sich gegen eine Umverteilung entscheiden.  Die Verwaltungsanweisung Ihrer Behörde legalisiert in diesem Fall den Gebrauch von Hand- und Fußfesseln. Ihre Behörde lässt dann die ihr anvertrauten Jugendlichen von der Polizei fixieren, um sie so gewaltsam dazu zu bringen, Bremen zu verlassen – gegen ihren Willen, entgegen der Jugendschutzbestimmungen, entgegen jeder pädagogischen Einschätzung und trotz der Tatsache, dass jungen geflüchteten Menschen besonderer Schutz und staatliche Zuwendung zusteht. Es sei noch einmal angemerkt, dass es sich hier um unbegleitete Kinder und Jugendliche handelt, die bereits traumatische Fluchterfahrungen erlebt haben. 
Im neuen Koalitionsvertrag der Bremischen Bürgerschaft (2023-2027) haben Sie sich einer „Humanitären Migrationspolitik“ (Z.6406) verschrieben und angekündigt, die Koalition werde “dafür Sorge tragen, dass die Migrationsämter Bremen und Bremerhaven ihre Verwaltungspraxis und Rechtsanwendung gleichermaßen im Sinne einer humanitären Migrationspolitik ausrichten” (Z.6405 f.). Das bleiben für uns leere Worte, denn wie kann von einer “humanitäre[n] Migrationspolitik” die Rede sein, wenn in Bremen die psychische und physische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen bewusst gefährdet und den Schutzsuchenden mit staatlicher Rechtfertigung Gewalt angetan wird? Die gängigen Praxen Ihrer Behörde stehen nicht nur im Widerspruch zum neuen Koalitionsvertrag sondern auch zu der 1989 verabdschiedeten UN-Kinderrechtskonvention.
Die neuen Vereinbarungen der Bremischen Bürgerschaft besagen zudem, dass “antimuslimischer oder anti-schwarzer Rassismus” (vgl. Z.6413f.) in Bremen und Bremerhaven “keinen Platz” hätten, die Koalition würde “[d]er zunehmenden rechten Gewalt und Hetze” “entschieden entgegen” treten und “einen Landesaktionsplan gegen Rassismus entwickeln”. Das ist pure Heuchelei und Doppelmoral, denn es sind Schwarze Jugendliche und Jugendliche of Color, die abgeschnitten von der Stadtgesellschaft in Massenunterkünften leben müssen und den Verwaltungsanweisungen Ihrer Behörde ausgeliefert sind. Die politische Praxis der Sozialbehörde steht offensichtlich in einem klaffenden Widerspruch zu den jüngsten Koalitionsvereinbarungen. Wir fragen Sie: Wie kann Ihre Behörde diese Zustände weiter vor sich rechtfertigen? Wie können Sie als Sozialdemokratin, deren Partei sich auf dem Papier lauthals für eine “Gesellschaft des Respekts” und für “Teilhabechancen und Entwicklungsmöglichkeiten” stark macht, weiter verantworten, dass geflüchtete Jugendliche unter unerträglichen Lebensbedingungen, abgeschottet von jeglicher Teilhabe in Bremen ihr Dasein fristen müssen?

Ihre Vorgängerin Anja Stahmann und ihr Abteilungsleiter Udo Casper im Referat “Grundsatzangelegenheiten UmF” haben in den vergangenen Jahren den Abbau des Jugendschutzes in Bremen vorangetrieben und tragen damit die politische Verantwortung für die rassistischen Praktiken der Unterbringung von geflüchteten Kindern und Jugendlichen unter menschenunwürdigen Bedingungen und Anordnung zur Umverteilung von Kindern und Jugendlichen in Hand- und Fußfesseln.
Als neue Sozialsenatorin sind Sie, Frau Dr. Schilling, nun für den weiteren Umgang mit minderjährigen Schutzsuchenden in Bremen zuständig. Auch, wenn Sie die Einführung dieser menschenfeindlichen Praktiken nicht zu verantworten haben, sind Sie jetzt dafür verantwortlich und in der Position diese umgehend zu beenden. 
Wir richten uns in der Erwartung an Sie, dass Sie die menschenfeindliche Politik ihrer Vorgängerin nicht weiterführen, sondern einen Kurswechsel in Richtung eines wirklich menschenwürdigen, respektvollen Umgangs mit schutzsuchenden Kindern und Jugendlichen einleiten.
Wir fordern Sie deshalb mit Dringlichkeit auf,

  1. Das Lager in der Turnhalle hinter dem Flughafen umgehend zu schließen und die Jugendlichen in einer menschenwürdigen Unterkunft unterzubringen, die kein Gesundheitsrisiko für sie birgt!
  2. Die Gefährdung von Jugendlichen durch die Androhung und Verwendung von Hand- und Fußfesseln zum Zweck ihres Transfers zu stoppen und damit im Sinne der Jugendschutzbestimmungen zu handeln!
  3. Die Zwangsumverteilung von Kindern und Jugendlichen aus Bremen in andere Bundesgebiete zu unterlassen und ihnen eine freie Wahl ihrer Wohnortes zu ermöglichen!
  4. Die Praxis der ‘vorläufigen Inobhutnahme’ von schutzsuchenden Jugendlichen zu beenden und eine reguläre Aufnahme zu gewährleisten!
  5. Sich konsequent für den Abbau von Antimuslimischem- und Anti-Schwarzem-Rassismus und rassistisch motivierter und rechter Gewalt und Hetze in Bremen einzusetzen – auch auf institutioneller Ebene und angefangen in Ihrer Behörde!
  6. Das rassistische System der Lagerunterbringung in Bremen endgültig abzuschaffen und schutzsuchenden Menschen endlich einen menschenwürdigen Wohnort zu bieten. 

Wir kämpfen weiter – bis das Lager in der Turnhalle geschlossen ist, bis die Jugendlichen an einem sicheren Ort sind, bis kein Mensch mehr in Lagern leben muss. Wir haben Platz. 

Bündnis #ShutDownTurnhalle