Bericht eines Bewohners des Lagers in der Lindenstraße
Lindenstraße ist ein Lager, das sich in Bremen Vegesack befindet. Offiziell heißt die Lindenstraße “ZAST” – “Zentrale Aufnahmestelle”. Abgesehen von unbegleiteten Minderjährigen, müssen alle Geflüchteten, die in Bremen neu ankommen, dort in den ersten Wochen oder Monaten in Bremen leben. Obwohl viele Mitglieder unserer Gruppe minderjährig sind, müssen sie auch in diesem Lager leben, solange das “Verfahren zur Altersfeststellung dauert – welches oft bis zu einem Jahr dauert. Laut Gesetz soll niemand länger als drei Monate in der Lindenstraße wohnen und spätestens nach drei Monaten in langfristigere Unterkünfte oder eigene Wohnungen umziehen – weil die Lindenstraße kein Ort ist, der irgendwie geeignet wäre, um dort für eine längere Zeit zu leben.
Lest den folgenden Bericht eines Bewohners des Lagers:
“Lindenstraße ist kein Ort, an dem Menschen für eine längere Zeit leben sollten. Tatsächlich sollte niemand dort überhaupt leben, aber dort für einen längeren Zeitraum zu leben ist einfach unmöglich.“
In der Lindenstraße leben ungefähr 400 Personen. Manche leben in 3-Personen Zimmern, andere zu sechst oder zu acht. Alle haben eine Zimmernummer. Die meisten Leute leben dort bis zu drei Monate in der Zeit ihres Asylprozesses. Aber andere, wir, die dem Alter, das uns die Behörden gegeben haben, widersprochen haben, müssen dort länger leben. Manche länger als acht Monate.
Lindenstraße ist kein Ort, an dem Menschen für eine längere Zeit leben sollten. Tatsächlich sollte niemand dort überhaupt leben, aber dort für einen längeren Zeitraum zu leben ist einfach unmöglich.
In den Zimmern ist die Belüftung sehr schlecht, weil es nicht möglich ist die Fenster zu öffnen. Es gibt keine frische Luft und besonders im Sommer ist es schwierig zu atmen mit so vielen Personen, die in einem Zimmer schlafen. Wenn wir frische Luft haben wollen, müssen wir nach unten oder nach draußen gehen.
“Sie machen alles so schwierig um uns zu Verzweiflung zu bringen und uns verrückt zu machen. Das ist, wofür es gemacht wurde.”
Lindenstraße kontrolliert uns. Wir betreten das Lager durch einen großen Eingang, an dem wir unsere Identitätskarte, die sie uns gegeben haben, einlesen und an den Sicherheitskräften vorbeigehen müssen. Wenn wir zweimal hintereinander nicht in der Lindenstraße schlafen, werden wir aus dem Lager und dem ganzen Sozialsystem rausgeschmissen und müssen den gesamten Registrationsprozess neu beginnen. Wenn das mehr als zweimal passiert, schließen sie uns komplett aus und wir sind raus aus dem System.
Sie kontrollieren uns nicht notwendigerweise physisch. Aber die Art, wie die Lindenstraße “designed” ist, die Art wie es gestaltet ist, kontrolliert uns. Es gibt keine andere Möglichkeit zu leben, zu agieren, sich zu bewegen als dem Design zu folgen. Wir müssen die Regeln und ihre Entscheidungen befolgen – was auch immer sie wollen was du tust, du must es akzeptieren. Es gibt keine Küchen, sondern zentrale Essenszeiten. Sie setzen die Zeit, zu der alle essen müssen. Stellt euch vor, ihr müsstet zu Mittag um 12 und zu Abend um 18 Uhr essen. Ihr könnt nach dem Abendessen bis zum nächsten Tag nichts essen.
Um nach oben zu den Zimmern zu gehen, müssen alle die Treppen benutzen, obwohl es Aufzüge gibt. Sogar schwangere Frauen dürfen nicht den Aufzug benutzen. Sie machen alles so schwierig um uns zu Verzweiflung zu bringen und uns verrückt zu machen. Das ist, wofür es gemacht wurde.
“Egal wie talentiert oder intelligent du bist, wenn du in dieser Situation lebst, wirst du eine sehr verzweifelte und frustrierte Person werden.”
Wir haben keinen Zugang zu Schulen oder dazu, Teil der Gesellschaft zu sein auf irgendeine Art und Weise. Es is designed: Wenn du dich für die Schule bewirbst, fragen sie dich nach Dokumenten und wenn die diese nicht vorzeigen kannst, hast du sehr geringe Chancen zur Schule zu gehen. Das ist so, weil sie nicht wollen, dass wir uns integrieren. Menschen, denen jegliche Chancen verwehrt werden und die nicht integriert sind, müssen kriminell werden um zu überleben und dann ist es einfach für die Behörden, sie zurück zu schicken.
In der Lindenstraße zu leben heißt, komplett von der Gesellschaft isoliert zu sein. Wenn du dort bist, die größte Frage ist, “wann komme ich hier wieder raus”. Es gibt Leute, die dort schon länger als ein Jahr sind und sie haben keine Stimme und sind machtlos. Egal wie talentiert oder intelligent du bist, wenn du in dieser Situation lebst, wirst du eine sehr verzweifelte und frustrierte Person werden. Weil du dich selbst fragst “was habe ich getan, warum sollte ich an diesem Ort sein?” Du wirst dich selbst zwingen es zu akzeptieren, in der Hoffnung, wieder raus zu kommen. Wenn du darum kämpft die Lindenstraße zu verlassen, schicken sie dich einfach an einen anderen Ort, der noch schlimmer bzw. am schlimmsten ist. Das ist, was andere Leute uns erzählen und es ist, wie sie uns dazu bringen wollen, uns allem zu fügen, was sie uns erzählen. So ist das System designed um uns leise zu halten.
“In der Lindenstraße zu leben heißt, das Privileg verweigert zu bekommen, die Bildung zu erhalten, die wir brauchen.”
Und es beeinflusst uns: das erste, was Leute bemerken, wenn sie anfangen in der Lindenstraße zu leben, ist der Mangel an Konzentrationsfähigkeit. Sogar wenn wir es schaffen einen Schulplatz zu kriegen, können wir uns in der Schule nicht konzentrieren. Und in der Lindenstraße lebt man mit so vielen Leuten in einer Situation in der man nicht lesen und lernen kann und es nicht schafft, sich auf seine Hausaufgaben zu konzentrieren. In der Lindenstraße zu leben heißt, das Privileg verweigert zu bekommen, die Bildung zu erhalten, die wir brauchen.
“…in der Lindenstraße leben zu müssen ist wie noch einmal bestraft zu werden, das Leben eines normalen Menschen verweigert zu bekommen.”
Nach all den Dingen, die wir erlebt haben auf dem Weg hierher, in Libyen oder im Krieg in unseren Heimatländern, hierher zu kommen und in der Lindenstraße leben zu müssen ist wie noch einmal bestraft zu werden, das Leben eines normalen Menschen verweigert zu bekommen. Niemand verdient es, an einem Ort wie der Lindenstraße zu leben, insbesondere nicht für eine längere Zeit. Und die Leute, die dieses System “designen”, tun das aus Gründen. Sie wollen, dass Menschen verzweifelt werden und in ihre Fallen tappen.
Es gibt Leute in der Lindenstraße, die vorher noch nie geraucht/gekifft haben, aber wenn sie hierher kommen ist es, als ob sie es müssten. Sie wissen nicht, was für ein Leben sie leben. Wenn man – nachdem man all diese Schwierigkeiten überwunden haben, um hierherzukommen – an so einen Ort gebracht, muss man Gras rauchen, um irgendwie noch in der Lage zu sein, normal zu leben. Anders hat man ein total negatives Denken und dein einziger Gedanke wird sein “wann kann ich endlich frei sein und ein normales Leben leben?” Wenn man die Leute beobachtet, die Gras rauchen, wird man sehen, dass sie sich komplett verändern. Es macht eine unbewusste Person aus dir, dein Kopf/Bewusstsein ist kontrolliert und sogar wenn du mit Menschen sprichst, bist du nicht wirklich hier.
“Und das ist, wie ein modernes Gefängnis funktioniert: es gibt nur Wände, gegen die man laufen kann und niemand, der einem den Weg raus in eine bessere Perspektive zeigt.”
Lindenstraße ist ein modernes Gefängnis. In einem normalen Gefängnis werden Menschen in Zellen festgehalten und ihnen wird nicht erlaubt raus zu gehen. Das Gefängnis nimmt ihre Freiheit in allen Aspekten. In der Lindenstraße geben sie dir einen Schlüssel um dein Zimmer zu öffnen und zu schließen. Deshalb würde man denken, dass du dort frei bist, dass es kein modernes Gefängnis ist. Aber, du hast den Schlüssel in deiner Hand aber du bist immer noch nicht frei. Du must dort für einer lange Zeit bleiben und du weißt nicht einmal, was dein Verbrechen ist. Sie haben Sicherheitsdienste dort, die jeden Teil des Gebäudes bewachen. Sie sind beauftragt, ihren Job auf eine sehr bestimmt Weise zu machen. Sie haben Anweisungen, wie sie die Menschen in der Lindenstraße behandeln sollen. Sie reagieren aggressiv, wenn die kleinsten Dinge geschehen und ihnen ist es total egal, in welcher Situation wir leben oder was sie dazu beitragen können, dass sich diese Situation verbessert. Sogar die netteren Sozialarbeiter*innen können dir am Ende nicht wirklich helfen und werden dir nur erzählen, dass eine bestimmte Angelegenheit, nicht ihre Verantwortung ist. Und das ist, wie ein modernes Gefängnis funktioniert: es gibt nur Wände, gegen die man laufen kann und niemand, der einem den Weg raus in eine bessere Perspektive zeigt.
“Wenn es Probleme gibt, hören sich die Sicherheitskräfte nicht beide Seiten an, sondern sich dich greifen, auf dem Boden halten und deine Hände fixieren, sodass du nichts mehr tun kannst.”
Anti-Schwarzer Rassismus in der Lindenstraße:
Manchmal, wenn es zu Problemen kommt, insbesondere wenn es Probleme zwischen Personen unterschiedlicher “race” gibt, können wir sehen, dass die Leute, die dort arbeiten, sich rassistisch verhalten. Die meisten der Sicherheitskräfte und der anderen Arbeitskräfte dort kommen aus dem Mittleren Osten. Die meisten werden diejenigen verteidigen, die sie verstehen, also diejenigen, die ebenfalls Arabisch sprechen. Sogar dort wo das Essen ausgegeben wird, müssen wir das nehmen, was sie uns geben, während sie bei anderen flexibler sind. Wenn es Probleme gibt, hören sich die Sicherheitskräfte nicht beide Seiten an, sondern sich dich greifen, auf dem Boden halten und deine Hände fixieren, sodass du nichts mehr tun kannst. Und die Sozialarbeiter*innen der AWO machen nichts, sie sitzen einfach nur da und gucken den Handlungen der Sicherheitskräfte zu.
“Wie stellt ihr euch das vor, dass Siebzehnjährige oder so dort so lange leben?”
Diejenigen, die dort aufgrund des Altersfeststellungsprozesses leben müssen, müssen ungefähr ein Jahr dort leben. Die meisten gewinnen am Ende ihre Fälle und werden schließlich im Jugendsystem aufgenommen. Wie stellt ihr euch das vor, dass Siebzehnjährige oder so dort so lange leben? Die meisten Leute, die dort leben, müssen dort nur kurz leben, weil sie Asyl beantragen. Dies sind vor allem arabische Menschen. Die meisten Schwarzen Menschen müssen dort für eine sehr lange Zeit leben und viele werden danach (aus Bremen raus) transferiert/umverteilt. Das ist so eine brutale Art Menschen zu behandeln.”
Den Kampf fortsetzen / das Bewusstsein und die Aufmerksamkeit stärken:
Die beschriebene Situation ist der Grund, warum wir in den vergangenen Monaten vor der Senatorin für Soziales demonstriert haben, es ist der Grund warum wir unseren Kampf gegen dieses System von Unterdrückung fortsetzen werden. So lange, wie grundlegende Menschenrechte ständig verletzt werden, ist unsere Antwort Widerstand!
Und unser Protest zeigt Wirkung: Als wir die Politiker*innen zu Verantwortung gerufen haben für die Einstellung gewalttätiger – so genannter – Sicherheitskräfte, wurden sie direkt nervös. Aber sie werden weiter so handeln, solange es niemanden gibt, der diese Dinge benennt. Helft uns, die Aufmerksamkeit und das Bewusstsein über diese Situation zu stärken, lasst sie mit ihrem Agieren nicht davonkommen!
Tatsächlich ist in dem Koalitionsvertrag der neuen Bremer Regierung festgelegt, dass alle Jugendlichen, die sich im Verfahren zur Altersfestellung befinden, in das Jugendhilfesystem aufgenommen werden und Zugang zu Bildung erhalten sollen. Warum befinden sich immer noch so viele Menschen in dieser Situation? Setzt eure Versprechen um, jetzt!